07/08/2025 von Dr. Rita Bourauel
Sekundenschlaf – ein tödlicher Beifahrer
Die unsichtbare Gefahr auf unseren Straßen
25 Prozent aller Getöteten im Straßenverkehr sind auf Müdigkeit zurückzuführen. Das Risiko für Sekundenschlaf ist in den frühen Morgenstunden zwischen vier und sieben Uhr in monotonen Situationen wie auf Autobahnen besonders hoch.
Übermüdung am Steuer wird selten zugegeben, da sie im Straftatbereich liegt (§ 315c – Strafgesetzbuch). Wer übermüdet einen Unfall verschuldet, muss mit Bußgeld, Entzug der Fahrerlaubnis und in besonders schweren Fällen mit einer Freiheitsstrafe rechnen. Müdigkeit am Steuer ist nach Überzeugung vieler Verkehrswissenschaftler eine der häufigsten Ursachen schwerer Verkehrsunfälle. Jeder vierte Autofahrende ist schon einmal am Steuer eingeschlafen, wie eine Umfrage des Deutschen Verkehrssicherheitsrats (DVR) ergab. Drei Viertel der Unfallfahrer sind männlich. Vor allem Männer im Alter von 20 bis 29 Jahren und 50 bis 59 verunfallten nach Übermüdung und nickten kurz ein, was auch Sekundenschlaf genannt wird. Fast 40 Prozent der Männer hatten mehr als 8,5 Stunden gearbeitet, weitere sieben Prozent über zehn Stunden. Jeder zehnte kam von der Nachtschicht, wobei sich dann der Heimweg als besonders kritisch herausstellte. Doch nicht nur die Nachtschicht ist für den „Biorhythmus“ problematisch, auch wenn man ungewohnt früh aufsteht, z. B. weil man auf Montage arbeitet und montags früh raus muss. Die „innere Uhr“ lässt sich nicht umerziehen. Ob jemand zum „Morgen-“ oder „Abendtyp“ gehört, ist genetisch bedingt. Auch die dunkle Jahreszeit macht müde und matt. Das Mittagstief gegen 14 Uhr ist ein weiterer Knackpunkt.
Müdigkeit ist nicht greifbar wie Alkohol oder Drogen, aber die Auswirkungen sind genauso verheerend. Nach 22 Stunden ohne Schlaf ist das Reaktionsvermögen so beeinträchtigt wie bei 1,0 Promille, nach 17 Stunden wie bei 0,5 Promille, so die Deutsche Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin (DGSM). Fehleranfälligkeit und Fehleinschätzungen steigen deutlich. Doch 45 Prozent der Autofahrer glauben, dass sie müdigkeitsbedingte Fahrausfälle durch Fahrerfahrung ausgleichen können. Müdigkeit am Steuer wird oft als banale Begleiterscheinung abgetan und unterschätzt. Wenn sich jemand am Ende eines Abends als Fahrer zur Verfügung steht, heißt das noch lange nicht, dass er auch sicher fahren kann, bloß weil er keinen Alkohol getrunken hat.
Müde oder schläfrige Fahrer überschätzen häufig ihre Leistungsfähigkeit. Zu wenig Schlaf führt zu unbekümmerten risikoreicheren Entscheidungen. „Wir bemerken selbst aber nicht, dass wir unter Schlafmangel riskanter handeln“, sagt Dr. med. Christian Baumann, Professor für Neurologie und Leiter des Klinischen Forschungsschwerpunkts „Sleep and Health“ des Universitätsspitals Zürich. Bei akutem Schlafmangel ist die Konzentrationsfähigkeit herabgesetzt, das Gedächtnis arbeitet schlechter. Mit der fundamentalen Bedeutung des Schlafes als Basis einer stabilen Gesundheit für Gehirn und Körper hat sich Prof. Dr. Jürgen Zulley mehr als 50 Jahre befasst. Zum Schlaf hat er 15 Bücher geschrieben und etwa 400 Veröffentlichungen gemacht. Prof. Dr. Jürgen Zulley: „Der gute Schlaf ist weder Luxus noch Zeitverschwendung. Im Gegenteil, er ist Grundvoraussetzung für Gesundheit, Leistungsfähigkeit und Wohlbefinden.“ Jeder, der sich übermüdet und mitSchlafmangel ans Steuer setzt, kann schnell in den gefährlichen Strudel der Müdigkeitgezogen werden. Verzweifelte Versuche, wie Fensterscheibe runter, Mitsingen der Musik im Radio, starker Kaffee, Cola, Energiedrinks oder sich selbst Ohrfeigen, helfen nicht wirklich, um irgendwie wach zu bleiben.
Der Schlaf ist ein stark unterschätzter Faktor, etwa 80 Prozent der Arbeitnehmer geben an, dass sie regelmäßig Ein- und Durchschlafprobleme haben. Das sind 66 Prozent mehr als noch im Jahr 2010. Jeder 10. Arbeitnehmer leidet, laut DAK-Krankenkasse, sogar unter starken Schlafstörungen. 62 Prozent fühlen sich tagsüber nichts ausgeruht und leistungsfähig, weil sie schlecht schlafen. Stress, Leistungs- und Termindruck und ungünstiges abendliches Verhalten, wie z. B. zu viel blaues Licht durch Bildschirmnutzung, Alkohol und falsches Essen, sind oft ursächlich. Schon Goethe und Schiller haben sich ausführlich über ihre Schlafprobleme ausgetauscht. Frauen tendieren dazu, länger zu schlafen und früher ins Bett zu gehen. Ausreichender Schlaf für Jung und Alt ist kein Luxus, sondern eine Kraftquelle, ein Muntermacher, ein Gedächtnisbooster und auch Depressionsschutz. Junge Erwachsene haben ein natürliches Schlafbedürfnis von durchschnittlich rund neun Stunden pro Tag, bei älteren Erwachsenen sind es um die 7,5 Stunden. Sieben bis acht Stunden regelmäßiger Schlaf werden täglich empfohlen. In Ausnahmen werden auch neun Stunden benötigt. „Schlaf ist die Nr. 1 Priorität in meinem Leben, wichtiger als alles andere. Wenn ich gut schlafe, dann fühlt sich das Leben gut an, sonst ist alles miserabel“, sagt Bryan Johnson, US-Biohacker und Biotech-Gründer. Nachdem er 10 Jahre unter Depressionen litt, hat er mit 45 Jahren eine besondere Schlafroutine entwickelt, die ihm 100-Prozent Schlaf gibt und ihn so glücklich macht. Messungen zeigen seine Schlafqualität. Abends geht er in der Regel gegen 21.30 Uhr ins Bett und wacht jeden Morgen um 5.30 Uhr ohne Wecker auf. Sein letztes Essen isst er mittags, das Schlafzimmer ist kühl, ohne Fernseher und Smartphone.
Der Mensch kann nicht rund um die Uhr leistungsfähig sein. Regelmäßige Pausen und achtsame Selbstbeobachtung sind bedeutsame Schritte, um sich und andere vor den Folgen der Müdigkeit am Steuer zu schützen.Technik im Fahrzeug kann den Fahrer warnen. Sensoren messen den Fahrerzustand und Assistenzsysteme reagieren und schlagen Alarm, z. B. bei unkontrollierten Lenkbewegungen. Aufmerksamkeits- und Müdigkeitsüberwachung sind in Neuwagen Pflicht. Mit einem blinkenden Kaffeetassensymbol wird der Fahrende aufgefordert, eine Pause zu machen. Wachhalten können diese Systeme den Fahrer nicht. Straßentechnische Maßnahmen, z. B. Rüttelstreifen, können den Fahrer aufschrecken, wenn der rechte Rand der Autobahn überfahren wird. Eine weitere gängige Maßnahme sind Straßenmarkierungen, die ein Reifengeräusch beim Überfahren erzeugen.
Jeder im Straßenverkehr muss verantwortungsbewusst handeln: Ausreichend Schlaf als Basis, Nachtfahrten meiden und eventuell öffentliche Verkehrsmittel wählen. Wird Müdigkeit bemerkt, hilft nur rechts ran oder rausfahren, auch wenn es nicht mehr weit nach Hause ist. Die paar Kilometer, die schaffe ich noch, haben schon viele gedacht und das ist leider auch oft schief gegangen.
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